Assistenz als Konzept für Professionelle in der Behindertenhilfe?

Kann „Assistenz“ an einer Fachschule gelehrt werden? Schließen sich Assistenz und Fachlichkeit aus oder muss das Assistenzkonzept sogar grundlegender Bestandteil in der Ausbildung von Professionellen in der Behindertenhilfe sein? Stephan Friebe, Dozent an der Fachschule für Sozialwesen der Johannes-Diakonie Mosbach, macht deutlich, dass Antworten auf diese und andere Fragen nicht leichtfertig gegeben werden können. Er beleuchtet zunächst das Assistenzkonzept, diskutiert dann unterschiedliche Fragestellungen, um anschließend seine Position darzustellen.

(Dieser Text erschien als Beitrag in der Fachzeitschrift „Orientierung“ 1/2018.)

Im Zuge des viel beschriebenen „Paradigmenwechsels“ soll sich das Selbstverständnis der Fachkräfte vom „Betreuer zum Begleiter“ hin entwickeln. Dies impliziert nicht nur ein verändertes Rollenverständnis der Professionellen, die ihr Handeln daran orientieren sollen, wie sich die behinderten Menschen Form und Inhalt der Unterstützungsleistungen wünschen. Auch die Rolle der bisher eher fremdbestimmten Hilfeempfänger wandelt sich. Sie werden zu „Experten in eigener Sache“, die autonom und selbstbestimmt maßgeblich Einfluss auf den Prozess der Organisation und Ausgestaltung der Hilfe nehmen sollen. 

Wird der oben genannte Paradigmenwechsel ernst genommen, dann brauchen wir in der Behindertenhilfe eine wirklich neue Dienstleistungskultur, die die Adressaten stärkt und als Mitgestalter in alle Prozesse einbezieht. Damit brauchen wir auch ein neues Verständnis der zu erbringenden Hilfeleistungen. Ein mögliches Prinzip könnte das der „Assistenz“ sein. 

Was meint Assistenz?

Assistieren bedeutet laut Duden Fremdwörterbuch „jemandem nach dessen Anweisungen zur Hand gehen“. Schaut man sich etwas in der Fachliteratur um und befasst sich mit Aussagen von Personen aus dem Bereich der Selbstvertretung, dann kann man über diese Form der Hilfeleistung zusammenfassend folgendes sagen: 

Gute Assistenz

  • orientiert sich genau an den Anweisungen des Assistenznehmers und ist zielgenau 
  • erfolgt zum gewünschten Zeitpunkt und am gewünschten Ort
  • garantiert die Selbstbestimmung des Nutzers und seine Unabhängigkeit
  • überlässt dem Nutzer die Entscheidung, die Assistenzleistung zu unterbrechen, zu verändern oder den Assistenten zu wechseln

Politische Kampfbegriffe

Das Konzept der Persönlichen Assistenz ist untrennbar mit dem Leitgedanken der Selbstbestimmung verbunden. Beides sind politisch gefüllte Begriffe und haben ihren Ursprung in der Behinderten- und Krüppelbewegung. Seit den 70er Jahren kämpften in Deutschland vor allem sinnes- und köperbehinderte Menschen gegen ihre Institutionalisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung, sie wandten sich gegen Fremdbestimmung, Entmündigung und Bevormundung durch Professionelle.

Das Konzept der Assistenz richtet sich also auch ausdrücklich gegen die Expertenmacht von Professionellen und gegen eine Pädagogisierung des Alltags behinderter Menschen. 

Kompetenzen der Assistenznehmer

Und ein Weiteres findet sich in der einschlägigen Literatur: Assistenz ist an bestimmte Kompetenzen der Assistenznehmer geknüpft. Am häufigsten werden folgende Kompetenzen genannt:

  • Personalkompetenz: die Fähigkeit, das assistierende Personal selbst auszuwählen
  • Organisationskompetenz: die Fähigkeit zur Planung des räumlichen und zeitlichen Ablaufs der Assistenzleistungen
  • Anleitungskompetenz: die Fähigkeit, Form, Art und Umfang der Hilfen vorzugeben
  • Finanzkompetenz: die Fähigkeit, die Hilfen selber einzukaufen, die Finanzierung abzuwickeln

Assistenz in der professionellen Behindertenhilfe?

Man muss sich ganz ehrlich fragen, kann das Konzept der Assistenz, so wie be-schrieben, überhaupt auf die professionelle Behindertenhilfe übertragen werden? Sind bei den Fachkräften der Behindertenhilfe nicht Professionalität und Experten-tum so eng miteinander verknüpft, dass Professionelle nie wirklich Assistenten sein können? Und verfügen beispielsweise Menschen mit so genannten geistigen Be-hinderungen, auf die sich ein Großteil der professionellen Behindertenhilfe bezieht, gerade nicht über die o.g. Kompetenzen und sind daher auf professionelle Unter-stützung und pädagogische Hilfen angewiesen? Schließlich stellt sich die Frage, sind Assistenzleistungen bei Menschen mit so genannten geistigen Behinderungen auch dadurch gar nicht möglich, da sie die gewünschte Assistenz nicht oder nicht erkennbar einfordern können? Außerdem ist auch das System der Behindertenhilfe immer noch in weit überwiegendem Maße stationär und zentralisiert organisiert. Tages- und Betreuungsabläufe werden durch Außenkriterien bestimmt und durch das Personal vorgegeben. Kann das strukturell überhaupt ein Ort für Assistenz sein?

Protagonisten der bundesdeutschen Behindertenbewegung, z.B. Gusti Steiner, wenden sich dementsprechend auch gegen eine Übernahme des Konzepts der Assistenz in das System der Behindertenhilfe. Sie fürchten, sicher nicht zu Unrecht, eine Sinnentleerung und Inflationierung der von ihnen erkämpften Begriffe. Poin-tiert schreibt er: „Man verändert nicht die Praxis, Behinderte in Heimen und Anstal-ten auszugrenzen, nennt aber die Wärterinnen inhaltsentleert Assistentinnen.“ (G. Steiner 1999)

Viele Fragen

Es sind Fragen, die mich schon lange als Dozent einer Fachschule für Sozialwesen beschäftigen. Verwässern wir Begriffe und Konzepte, wenn wir „Selbstbestimmung“ als Leitziel für die professionelle Arbeit mit behinderten Menschen propagieren? Ist der Anspruch, Menschen, die wir als geistig behindert bezeichnen, als Experten in eigener Sache anzusehen, Augenwischerei? Schließt es sich nicht aus, Fachkraft zu sein und gleichzeitig Assistent? Verhindern nicht allein die strukturellen Bedingungen in den allermeisten Einrichtungen eine Umkehrung der Machtverhältnisse, wie dies auch das Konzept der Assistenz beinhaltet? Und: lässt sich „Assistenz“ überhaupt erlernen? Können Lehrkräfte die Aufgaben der „Assistenz“ überhaupt allgemein vermitteln oder kann das immer nur der jeweilige Assistenznehmer (i.S.v. Anleitungskompetenz)?

Ich glaube, es ist zwingend notwendig, sich diese Fragen zu stellen. Es ist wichtig, sich mit der Geschichte der Begriffe und mit dem in den 1970er Jahren begonnenen Kampf um Emanzipation und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu befassen und sich auch mit den Argumenten auseinanderzusetzen, wie sie Gusti Steiner (1999) oder Willehad Lanwer (2005) beschreiben, die sich gegen eine Übernahme der Begriffe und Konzepte wenden.

Meine Antwort

Und doch: der Anspruch auf Selbstbestimmung und auf Assistenz als Leitprinzipien für die Begleitung, das muss m.E. für alle Menschen mit Unterstützungsbedarf gelten. Unabhängig von der Art und vom Umfang der Beeinträchtigung und auch unabhängig von den institutionellen Rahmenbedingungen, müssen diese Leitgedanken von den Professionellen verinnerlicht und zur Richtschnur ihrer Professionalität werden. 

Selbstbestimmung

Selbstbestimmung gehört wesenhaft zum Menschsein. Menschliche Entwicklung ist grundsätzlich auf Zuwachs an Autonomie angelegt, natürlich auch die Entwicklung von Menschen mit jeglicher Form von Behinderungen. Bestrafung erfolgt in allen menschlichen Gesellschaften und Kulturen durch den Entzug von Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Menschliches Wohlbefinden hängt maßgeblich von den Möglichkeiten zur Selbstbestimmung ab. Dabei ist die Selbstbestimmung eine Kompetenz, sie bedarf der Bildung, ist selbst ein Bildungsziel. Jemanden selbst bestimmen zu lassen, Entscheidungen abzuverlangen, wenn kaum Vertrautheiten und Vorlieben entwickelt sind, steigert die Hilflosigkeit. Selbstbestimmung ermöglichen heißt zunächst einmal: Förderung des Menschen zur Ausbildung von Geschmack, Vorlieben, Fertigkeiten und Kreativität. In diesem Sinne gilt für Professionelle die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu unterstützen, zu begleiten und zu ermöglichen. In diesem Sinne müssen Professionelle ausgebildet werden.

Assistenz

Assistenz muss als Leitgedanke zur Grundhaltung von Professionellen in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen werden. Assistenz als handlungsleitendes Prinzip hilft den Profis, sich selbstkritisch mit Macht bzw. Verführungen zum Mächtigsein auseinander zu setzen. Statt: „Ich (Betreuer) gebe dir, zu deinem Besten, Anweisungen!“ ändert sich der Auftrag zu: „Ich, von dir geistig behindert genannt, gebe dir Anweisungen, wie du mir zur Hand zu gehen hast!“ Dabei erfordert dieser Anspruch gleichzeitig ein hohes Maß an Fachlichkeit, um Signale erkennen, Anweisungen lesen und Kompetenzen entschlüsseln zu können. In diesem Sinne muss in der Ausbildung von Professionellen Fachlichkeit vermittelt und alles dafür getan werden, dass sie eine Haltung ausprägen, die sich am Leitgedanken der Assistenz orientiert. Dabei darf es in den Köpfen und in der Praxis keine neuen Ausgrenzungen von Menschen geben, die als „assistenzunfähig“ gelten.

Und schließlich kann der Leitgedanke der Assistenz auch zum „Stachel“ werden, um in den Einrichtungen Veränderungsprozesse zu initiieren. Assistenz verlangt nach Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten der Klienten. Sie, aber auch die Mitarbeiter sind auf allen Ebenen und bei allen Veränderungsprozessen einzubeziehen. So kann Assistenz zur Orientierung für die Einrichtungen werden, differenzierte, regionale und personenorientierte Leistungen zu entwickeln, die Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben der Gesellschaft ermöglichen, statt den Focus weiterhin auf einrichtungsorientierte Hilfen zu legen.

Fazit

Assistenz als Leitgedanke kann nicht ohne seinen politischen Hintergrund aus der „Krüppelbewegung“ verstanden werden. Assistenz stärkt die Position von Menschen mit Unterstützungsbedarf, ohne Ausnahme. Sie verändert das Selbstverständnis und die Arbeitsweise der Profis und muss mit Veränderungen der Strukturen, Abläufe und Prozesse innerhalb der Institutionen einhergehen. Assistenz wird nicht realisiert, indem Begriffe ausgetauscht werden. Assistenz ist ein Leitziel, das sicher nicht immer erreicht wird, es ist ein Anspruch, dem sich die Professionellen immer wieder auf’s Neue stellen müssen.

Quellen (Auswahl):

Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (Hg.) (2002): Persönliche Assistenz – Assistierende Begleitung. http://dhg-kontakt.de/wp-content/uploads/2015/12/DHG-Schrift-8.pdf

Hähner, U. u.a. (2016): Vom Betreuer zum Begleiter. Lebenshilfe-Verlag

Lanwer, W. (2005): Assistenz oder Unterstützung. Anforderungen an die Lebensbegleitung von Menschen mit schweren Behinderungen. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hg.) Schwere Behinderung – eine Aufgabe für die Gesellschaft, S. 81-101

Steiner, G. (1999): Selbstbestimmung und Assistenz. In: Zeitschrift „Gemeinsam leben“ 3/99. http://bidok.uibk.ac.at/library/gl3-99-selbstbestimmung.html

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